Fragen für die Zukunft der Citizen Science: „Es braucht verstärkte interdisziplinäre Zusammenarbeit”
Welche Themen werden aktuell im Bereich Science of Citizen Science diskutiert? Was wissen wir über Bildungsergebnisse der Teilnahme an bürgerwissenschaftlichen Projekten? Und was braucht es noch, damit der Ansatz sein Potenzial im Bereich Bildung bestmöglich entfalten kann? Das haben wir Till Bruckermann und Vanessa van den Bogaert von der Leibniz Universität Hannover gefragt.
Eure Forschung zählt in den Bereich Science of Citizen Science. Könnt ihr kurz und knapp erklären, womit sich die Science of Citizen Science beschäftigt?
Vanessa: Science of Citizen Science ist die Forschung auf der Metaebene über Citizen Science. Dabei kann es um die Personen, die gemeinsam in Citizen-Science-Projekten arbeiten, gehen, also zum Beispiel um Fragen wie: Welche Merkmale, Einstellungen und Vorannahmen haben die Teilnehmenden von Citizen-Science-Projekten, oder auch die beteiligten Wissenschaftler*innen? Und wie verändern sich diese vielleicht durch die Teilnahme? Science of Citizen Science kann sich aber auch damit beschäftigen, welche Erkenntnisse in Citizen-Science-Projekten generiert werden und wie die Qualität der erhobenen Daten ist.
Wie hat sich der Bereich Science of Citizen Science entwickelt, und welche Themen werden aktuell besonders diskutiert?
Till: Die Science of Citizen Science sieht sich der Aufgabe gegenüber, das Potenzial, das Politik und Wissenschaft in Citizen Science sehen, und das in Publikationen wie dem Grünbuch und Weißbuch beschrieben wurde, nun auch zu prüfen. Inwieweit wurde das Potenzial bereits eingelöst und ist es überhaupt einlösbar? Science of Citizen Science kann insofern eine Art Reflexionsfolie für die Bürgerwissenschaften bieten. Ganz aktuell beschäftigen wir uns in unserer Arbeit zum einen mit der Frage nach der Belastbarkeit bisheriger Studien. (Tipp zum Nachlesen)
Zum anderen untersuchen wir, wer eigentlich an Citizen-Science-Projekten teilnimmt. Dabei stellt sich nicht nur die Frage, wie sich die Teilnehmenden im Hinblick auf demographische Hintergründe – also Alter, Bildungsstand, sozioökonomischer Hintergrund – zusammensetzen, sondern auch, was ihre Motive sind, welches Wissen und welche Fähigkeiten sie mitbringen. Ein Stichwort ist hier die epistemische Diversität: Inwiefern divers sind Projekte eigentlich aufgestellt im Hinblick auf die Überzeugungen ihrer Teilnehmenden dazu, wie Wissen produziert wird? (Tipp zum Nachlesen)
Der letzte Punkt, bei dem wir aktuell Entwicklungen sehen, ist die Frage nach dem Übergang von Citizen Science aus bisher eher informellen Lernkontexten hin zu einer stärkeren Nutzung in formalen Lernkontexten wie Schule und Universität. Wie lässt sich etwas, das normalerweise mit großer Wahlfreiheit und Flexibilität im Alltag umgesetzt wird, in formalen Settings mit stärkeren Restriktionen umsetzen? Wenn wir das Potenzial von Schulen nutzen wollen, auch breitere Bevölkerungskreise für Citizen Science zu gewinnen, müssen wir dafür stärker Lehrkräfte einbinden und sie fragen, wie die Umsetzung von Citizen Science in den Schulunterricht gelingen kann. Das versuchen wir mit dem Projekt CitSci@Schools. (Tipp zum Nachlesen)
Im Bereich Science of Citizen Science wird ja unter anderem die Wirkung von Citizen Science untersucht. Was heißt Wirkung überhaupt und wie wird sie gemessen?
Vanessa: In der empirischen Bildungsforschung verstehen wir Wirkung im Sinne eines Ursache-Wirkungs-Gefüges. Es geht darum, den Mechanismus, warum etwas zustande gekommen ist, erklären zu können, also wissenschaftlich nachzuweisen, dass ein Faktor – in unserem Fall zum Beispiel die Teilnahme an einem Citizen-Science-Projekt – tatsächlich die Ursache für eine Veränderung war.
Till: Eine Kritik könnte dabei sein, dass das Geschehen in Citizen-Science-Projekten derart multifaktoriell bedingt ist, dass man eigentlich keine eindeutigen Mechanismen finden könnte. Genau vor dieser Herausforderung stehen wir aber in der empirischen Bildungsforschung auch, wenn wir formalen Unterricht untersuchen. Es gilt dabei, eine Balance zu finden, also eine große Validität der Studie sicherzustellen, indem man möglichst viele Faktoren ausschließt, aber auch wiederum nicht zu sagen, es sei monokausal. Im Bereich Citizen Science haben wir inzwischen eigentlich genug Studien, die im Feld stattgefunden haben und Erkenntnisse über mögliche Faktoren erbracht haben. Diese müssten nun durch experimentelle oder quasi-experimentelle Studien ergänzt werden, die testen, ob die Mechanismen auch unter Laborbedingungen beobachtet werden können. (Tipp zum Nachlesen)
In eurer Forschung habt ihr euch besonders mit den Effekten von Citizen Science in Bezug auf Bildung und Lernen beschäftigt. Was sind denn mögliche Lernziele in bürgerwissenschaftlichen Projekten?
Till: Gerade für naturwissenschaftliche Citizen-Science-Projekte ist hier zum Beispiel naturwissenschaftliche Grundbildung als mögliches Zielkonstrukt relevant. Da müssen wir uns erstmal fragen, was naturwissenschaftliche Grundbildung eigentlich meint. Allein im Feld der empirischen Bildungsforschung werden mindestens drei Auffassungen davon diskutiert: Geht es eher darum, zu denken wie Naturwissenschaftler*innen oder darum, naturwissenschaftliche Erkenntnisse in der Lebenswelt rezipieren zu können, um Handlungsentscheidungen zu reflektieren? Auf dem Kontinuum dieses Begriffsverständnisses müssen wir klären, was Citizen Science eigentlich fördern soll und welche Ziele und Ergebnisse von Citizen Science darunter subsumiert werden können.
Vanessa, du bist Co-Autorin einer in 2023 veröffentlichten systematischen Überblicksstudie (Literature Review) zu Lernzielen und wissenschaftlichen Ergebnissen von Citizen Science. Nach welchen Kriterien habt ihr die Publikationen dazu ausgewählt?
Vanessa: Bei der Literaturrecherche haben wir darauf geachtet, nur solche Publikationen miteinzuschließen, die selbst den Begriff Citizen Science verwendet haben und sich in diesem Bereich verorten. Wir haben daher nur nach Publikationen gesucht, die „Citizen Science” im Titel führen. Die ganze Literatur, die wir in den Literaturdatenbaken Web of Science, FIS Bildung und im Journal Citizen Science: Theory and Practice gefunden haben, haben wir systematisch kategorisiert. Dafür haben wir ein Kodier-Manual entwickelt, um thematisch gebündelte Kategorien zu bilden. Dabei ist unter anderem die Kategorie der Lernziele entstanden. In dieser Kategorie wurden empirische Studien aufgenommen, bei denen beispielweise Veränderungen der Ausprägungen von affektiven, kognitiven und motivationalen Variablen bei den Teilnehmenden untersucht wurden. Aber wir haben auch Erfahrungsberichte und Projektbeschreibungen gefunden, theoretische und konzeptionelle Abhandlungen, innovative Technologien wie Apps, die für Citizen-Science-Projekte entwickelt wurden oder für diese beworben werden. Wir haben also versucht, das ganze Feld der Citizen Science ein bisschen zu sortieren, um einen Überblick zu bekommen: Was ist denn eigentlich drin, wenn Citizen Science draufsteht?
Gibt es in der Forschung über die Lernziele in Citizen-Science-Projekten Forschungslücken, die euer Literature Review deutlich gemacht hat?
Vanessa: Wir haben herausgefunden, dass es eine ganze Menge unterschiedlicher, auch empirischer, Studien gibt. Wenn man aber strenge wissenschaftliche Standards anlegt, zum Beispiel, dass spezifische Forschungsdesigns verwendet werden müssen, um bestimmte Aussagen treffen zu können, muss man feststellen, dass die Erkenntnisse vieler der identifizierten Studien nicht verlässlich und verallgemeinerbar sind. Ein Beispiel: Wenn man kausale Ursache-Wirkungs-Gefüge untersucht, muss es idealerweise ein Kontrollgruppendesign geben. Die empirischen Befunde zu den Ansprüchen und Wünschen an Citizen Science sind also noch nicht so stabil.
Till, du warst mit WTImpact in die Begleitforschung zu Citizen Science im Bereich Biodiversitätsforschung involviert. Welche Wirkungen der Teilnahme an Citizen Science hast du dabei in den Blick genommen und was hat deine Analyse ergeben?
Till: Bei WTImpact hatten wir das Glück, dass wir schon recht früh im Verlauf des Projekts zwischen Bildungsforschung und naturwissenschaftlicher Forschung zusammenarbeiten konnten. Wir konnten dadurch ein Feldexperiment umsetzen und haben auch Beobachtungsstudien gemacht: In welchen Aktivitäten beteiligen sich Teilnehmende eigentlich online und welche Effekte hat die Beteiligung auf Wissen und Einstellungen? Hier konnten wir zum einen finden, dass es vermutlich gar nicht so sehr auf die Aktivitäten ankommt, die ausgeführt werden. Schon allein die Datensammlung gab den Teilnehmenden hinreichend Gelegenheit, sich mit dem Thema – bei uns waren es Fledermäuse – auseinanderzusetzen, um entsprechend Fachwissen über Fledermäuse zu entwickeln und auch positivere Einstellungen gegenüber den Tieren zu gewinnen. Die Teilnehmenden haben auch positivere Einstellungen gegenüber Citizen Science und ihrer Beteiligung in Citizen Science entwickelt. Wir haben uns außerdem damit beschäftigt, was Teilnehmende bereits mitbringen und wie das beeinflusst, wie sie lernen und was sie lernen. Dabei haben wir herausgefunden, dass Teilnehmende, die schon ein bisschen Fachwissen über das Thema mitbringen, am Ende des Projekts auch positivere Einstellungen zur Wissenschaft haben. (Tipp zum Nachlesen)
Gab es neben diesem Faktor noch andere Umstände, die ihr untersucht habt und die Lernergebnisse der Teilnahme begünstigen können?
Till: Wir haben uns auch mit wissenschaftlichem Denken auseinandergesetzt. Wissenschaftliches Denken ist schwer zu erfassen, weil man dazu Tests braucht, nicht nur Fragebögen. Vermutlich gibt es auch deshalb nur wenige Studien dazu. Wir haben herausgefunden, dass Fähigkeiten zum wissenschaftlichen Denken eigentlich eher eine Voraussetzung zur Teilnahme sind und Teilnehmende, die entsprechende Fähigkeiten mitbringen, am Ende auch mit mehr Fachwissen aus so einem Projekt herausgehen. Sie können die Fähigkeit zum wissenschaftlichen Denken im Projekt anwenden, um Fachwissen zu gewinnen und über das Thema Wildtierökologie in all seinen wissenschaftlichen Nuancen zu lernen. Da stellt sich natürlich die Frage, wie man Teilnehmende, die keinen akademischen Hintergrund haben, befähigen oder Barrieren so niedrig setzen kann, dass eine Beteiligung eben nicht nur mit diesen akademischen Fähigkeiten zu wissenschaftlichem Denken möglich ist, sondern auch mit lokalem, intuitivem Wissen. (Tipp zum Nachlesen)
Welche Strukturen braucht es euren Erkenntnissen aus der Science of Citizen Sciene nach, damit der Ansatz sein Potenzial im informellen, non-formalen und formalen Bildungsbereich bestmöglich entfalten kann?
Vanessa: Für die Neu- und Weiterentwicklung von Citizen-Science-Projekten und Formen der Zusammenarbeit brauchen wir empirische Evidenz als Grundlage. Das kann aber nur funktionieren, wenn wir belastbare Studien haben. Hier muss also noch mehr und vor allem mit geeigneten Studiendesigns geforscht werden.
Till: Es braucht außerdem eine verstärkte interdisziplinäre Zusammenarbeit. Also, dass Projekte zum Beispiel von Naturwissenschaftler*innen oder Geisteswissenschaftler*innen, als Expert*innen für das jeweilige Thema, und von Personen aus der Bildungsforschung, als Expert*innen für das Lernen, gestaltet werden. In der Befragung zum Weißbuch haben Teilnehmende unter anderem berichtet, mehr Wissen zu haben, wenn die Projekte Feedbackmöglichkeiten geboten haben. Aus Sicht der Bildungsforschung hätten wir das wohl auch schon vorhersagen können, denn es gibt im Bereich sehr viele Studien zu Feedback. Das zeigt, dass stärkerer Austausch mit der Bildungsforschung sehr wichtig wäre.
Dieser Beitrag ist Teil unserer Jubiläums-Blogreihe „Fragen für die Zukunft der Citizen Science". Hier geht es zur Übersicht der Blogreihe.