Bibliotheken & Archive: Über Erinnerungsarbeit durch Citizen Science mit Sonja Pösel

Die Arolsen Archives, das weltweit größte Archiv zu den Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus, führen seit 2020 das Citizen-Science-Projekt #everynamecounts durch. Wir haben mit Projektleiterin Sonja Pösel über die Öffnung von Archiven, Überraschungsmomente beim Crowdsourcing und Erinnerungsarbeit durch Citizen Science gesprochen.
Wie sind die Arolsen Archives entstanden und was sind heute ihre Aufgaben?
Pösel: Die Arolsen Archives waren nicht immer ein Archiv im klassischen Sinne. Entstanden sind sie 1948 unter dem Namen International Tracing Service. Direkt nach dem Krieg herrschte Chaos in Europa. Die Alliierten waren mit einer beispiellosen humanitären Krise konfrontiert. Die Nationalsozialisten hatten Millionen von Menschen aus ganz Europa verschleppt, inhaftiert oder ermordet. Die Suche nach den Opfern war eine gigantische Aufgabe. Informationen lieferten oft nur NS-Dokumente, die millionenfach zusammengetragen und ausgewertet werden mussten, denn sie dokumentierten die Verbrechen und Deportationen akribisch. Ehemalige KZ-Häftlinge halfen bei dem Sammeln der Beweise. Diese Dokumente wurden von den Alliierten und Überlebenden zunächst an verschiedenen Stellen in Europa gesammelt und dann relativ schnell in Bad Arolsen zentralisiert. So entstand unser Archiv. Hauptaufgabe des International Tracing Services war es viele Jahre lang, Familien zusammenzuführen und die Schicksale der Opfer des Nationalsozialismus zu klären. Das machen wir auch heute noch: Wir bekommen nach wie vor 20.000 Anfragen pro Jahr, sowohl von Nachfahr*innen der Opfer als auch von Wissenschaftler*innen. Unser Interesse als Institution ist es aber auch immer mehr, mit dem Erbe, dem Wissen und den Dokumenten, die wir haben, Bildungs- und Informationsarbeit zu betreiben.
Warum habt ihr euch entschieden, euch im Bereich Citizen Science zu engagieren?
Pösel: Wir haben insgesamt 30 Millionen historische Dokumente und 50 Millionen Dokumente in der Zentralen Namenkartei. Beides ist seit 2013 UNESCO-Weltdokumentenerbe. Dazu kommen Millionen weiterer Dokumente. Unser Archiv ist also riesig. Viele der Dokumente sind in unserem Online-Archiv verfügbar, aber eben nicht alle. Das liegt auch an mangelnden Metadaten. Man kann ein Dokument oder eine Information ja nur finden, wenn die Metadaten erfasst sind. Die ursprüngliche Idee war also, über Crowdsourcing unsere Metadatenlage zu verbessern. Im Laufe des Projekts haben wir jedoch gemerkt, dass andere Aspekte genauso wichtig, oder sogar wichtiger sind. #everynamecounts bietet die Möglichkeit, sich kollaborativ und digital mit Originalquellen und dem Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Es ist also eine neue, niederschwellige Form der Erinnerungsarbeit. Und es ist eine Möglichkeit Archive zugänglich zu machen. Archive haben so etwas Verstaubtes an sich, das häufig romantisiert wird und zu dem die Öffentlichkeit oft keinen Zutritt hat. Lange Zeit galt, dass Originalquellen nur von Wissenschaftler*innen richtig gelesen werden können. Unser Wunsch ist es, auch im Sinne von Open Data, dies zu ändern.
#everynamecounts ist eines der bekanntesten Citizen-Science-Projekte im Archivbereich. Wie können sich Bürger*innen beteiligen und wie ist die Zusammenarbeit organisiert?
Pösel: Es ist super simpel. Es gibt eine Webseite, die weltweit frei zugänglich ist. Die Dokumente sind natürlich in erster Linie auf Deutsch, aber die Anleitungen sind auch auf Englisch verfügbar und wir haben weltweit viele Zugriffe. Es war uns ganz wichtig, ein niederschwelliges Angebot zu schaffen, das auch ohne Vorwissen über den Nationalsozialismus zugänglich ist. Man wird Schritt für Schritt angeleitet und kann schon innerhalb von fünf Minuten ein Dokument bearbeiten und einen ersten Erfolg verbuchen. Es gibt Freiwillige, die bearbeiten Tausende von Dokumenten und es gibt welche, die bearbeiten vielleicht nur ein oder zwei. Jede Teilnahme ist für uns eine Hilfe und ein Erfolg.
Wie stellt ihr eine hohe Qualität der von Citizen Scientists erfassten Daten sicher?
Pösel: Jedes Dokument wird per Zufallsprinzip an drei verschiedene Freiwillige ausgespielt und von ihnen bearbeitet. Wenn wir zwei gleiche Eingaben haben, geht das als ‚sauber‘ in die Datenbank. Bei drei verschiedenen Einträgen wird das Dokument einer internen Qualitätskontrolle unterzogen. Die Anzahl der Dokumente, die einer Qualitätskontrolle unterzogen werden müssen, hängt von der Komplexität des Dokumentenbestandes ab, liegt aber insgesamt unter 10 Prozent.
Welche Neuerungen bringt Künstliche Intelligenz für euch? Wird Crowdsourcing in Zukunft überflüssig?
Pösel: Das ist eine Frage, mit der wir uns natürlich beschäftigen. Und wir arbeiten schon seit Jahren mit OCR und heute auch mit KI. Beides setzen wir vor allem bei der Erfassung von Listen ein. Wir haben viele Listen in unserem Archiv, zum Beispiel Deportationslisten oder Appelllisten, die oft nur wenige Informationen zu einer Person enthalten. Diese Informationen sind für das Archiv absolut relevant, aber für die Crowd nicht so interessant. Bei #everynamecounts präsentieren wir daher nur solche Dokumentenbestände, die dem Erinnerungs- und Bildungsanspruch des Projekts gerecht werden. Wir stellen den Freiwilligen Dokumente zur Verfügung, die interessant sind, die Fragen aufwerfen und vielleicht sogar Antworten geben - und deren Bearbeitung natürlich ein Gewinn für das Archiv ist.
Wisst ihr etwas über die Menschen, die bei euch mitmachen?
Pösel: Wir haben zwei grundsätzlich sehr unterschiedliche Zielgruppen. Da sind die First-Time-One-Time-User, die wirklich nur einmal mitmachen und sich nicht registrieren. Und dann gibt es die Heavy User. Beide sind total wichtige Zielgruppen für uns. Für die First-Time-One-Time-User haben wir viel weniger demographische Daten, weil wir keinen direkten Kontakt mit ihnen haben und sie sich meistens nicht registrieren. Da sind viele Schulklassen dabei, die zum Beispiel zu den großen Gedenktagen mitmachen, aber auch Unternehmen und Institutionen im Rahmen von Corporate-Responsibility-Maßnahmen. Wir wurden jetzt über fast drei Jahre mit einer Evaluation von der Hertie School of Governance begleitet, die Ergebnisse wurden am 5. Mai in Berlin vorgestellt. Die Forschenden haben herausgefunden, dass #everynamecounts wirkt! Die Teilnahme motiviert zur weiteren Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Erinnerungskultur. Und was noch viel wichtiger ist: Die Menschen, die mitmachen, haben das Gefühl, dass ihr Handeln zählt und dass sie Teil von etwas Größerem sind. Das ist ein großer Erfolg für unser Projekt und es ist toll, dass dies nun auch wissenschaftlich belegt ist.
Gab es besondere Hürden oder Überraschungen in der Zusammenarbeit mit den Freiwilligen?
Pösel: Tatsächlich relativ wenige. Es ist manchmal schwierig, eine Balance zwischen den beiden Zielgruppen zu finden. Die Eingabemaske in unserem Tool zielt sehr stark auf die First-Time-One-Time-User ab. Wir haben da ein paar Grundsätze, zum Beispiel, dass es nicht mehr als acht Schritte sein sollen, da sonst die Absprungrate steigt und die Qualität der Erfassung schlechter wird. Die Heavy User wünschen sich zum Teil kompliziertere Erfassungen oder mehr Kontext. Eine Überraschung war sicherlich, wie gut das Projekt jetzt schon über viele Jahre läuft. Wir machen mindestens einmal im Jahr eine Challenge, bei der wir dazu aufrufen, zum Beispiel um den Holocaust-Gedenktag am 27. Januar, eine bestimmte Anzahl an Dokumenten zu bearbeiten. Dieses Jahr wurden wir komplett überrannt, nach anderthalb Tagen waren die 10.000 angedachten Dokumente fertig erfasst. Eine Influencerin hatte unsere Aktion aufgegriffen, was uns einen wahnsinnigen Boost gegeben hat. Da mussten wir dann schnell reagieren und mehr Dokumente bereitstellen. Crowdsourcing lässt sich eben nicht hundertprozentig steuern, das macht #everynamecounts zu einem sehr lebendigen Projekt.
Wenn du auf das Projekt zurückschaust, was sind die größten Learnings oder Erfolgsmomente?
Pösel: Viele Menschen haben das Bedürfnis, sich zu engagieren, aber manchmal ist die Hürde relativ groß, sich wirklich in ein Ehrenamt zu begeben. Unser Ansatz funktioniert, weil wir viel Spielraum lassen, und das Angebot sehr niederschwellig ist. Ein Learning ist, wie wichtig es ist, dass unsere Angebote den digitalen Seh- und Nutzungsgewohnheiten der Freiwilligen entsprechen. Auch und gerade gesellschaftlich relevante Themen brauchen eine gute UX und ein attraktives User Interface. Der größte Erfolg ist, dass #everynamecounts so gut ankommt. Das Motto „Setz ein Zeichen für Respekt, Vielfalt und Demokratie“ spricht sehr viele Menschen an und unterstreicht, wie wichtig das Projekt für die heutige Demokratiearbeit ist. Insgesamt haben bereits über 280.000 Menschen aus mehr als 120 Ländern mitgemacht, darunter viele prominente Unterstützer*innen, zum Beispiel Annalena Baerbock oder der SC Freiburg. Und wir haben Preise gewonnen, unter anderem den Smart Hero Award.
Seid ihr mit anderen Archiven vernetzt, die ebenfalls Bürger*innen in ihre Arbeit einbinden?
Pösel: Aktuell kooperieren wir vor allem mit Archiven, die interessante Sammlungen zum Thema NS-Verfolgung haben, aber nicht die Kapazitäten, diese Dokumente zu digitalisieren und online zu stellen. Die nehmen wir dann bei #everynamecounts mit auf und übergeben die gewonnenen Metadaten an unsere Partner. Wir sind auch mit anderen Archiven zum Thema Citizen Science in Kontakt. Viele Citizen-Science-Projekte in diesem Bereich setzen aber stärker auf enge Communitybetreuung. Auch wenn die Heavy User wichtig für uns sind, zielen wir mehr auf die First-Time-One-Time-User ab, das ist einfach ein anderer Ansatz. Gerade zum Thema Engagement im Digitalen könnten wir uns sicher noch mehr vernetzen.
Wie könnte die Zusammenarbeit zwischen Archiven, Bibliotheken und anderen Forschungseinrichtungen im Bereich Citizen Science aus eurer Sicht noch gestärkt werden?
Pösel: Ich glaube, die Bereitschaft zur Öffnung und Zusammenarbeit ist in den letzten Jahren extrem gestiegen. Die meisten Archive sind öffentlich gefördert, da macht es Sinn, was wir machen auch zu teilen. Wir müssen aber noch stärker aus den alten Strukturen heraus und in neue Strukturen mit mehr Kooperation hinein.
Gibt es strukturelle oder finanzielle Hürden, die es Archiven schwer machen, Citizen Science nachhaltig in ihre Arbeit zu integrieren?
Pösel: Viele Archive haben Finanzierungsprobleme, das betrifft vor allem die kleineren Einrichtungen. Als große Institution sind wir relativ gut gefördert und müssen nicht jedes Jahr um unsere Existenz bangen. Aber auch wir stecken, wie viele andere Institutionen, in der Förderlogik, in der man immer wieder Anträge stellen muss und keine langfristige Planungssicherheit hat. Das erschwert es, Projekte langfristig aufzubauen und Personal zu halten.
Welche Wünsche hast du an Politik und Gesellschaft, um Citizen-Science-Projekte weiter zu fördern?
Pösel: Ich würde mir wünschen, dass Menschen ernst genommen werden und man ihnen mehr zutraut, dass Fragen und Kontroversen zugelassen werden. Wissenschaft und Archive sollten zugänglicher und offener werden. Citizen Science ist ein Weg, Menschen zu involvieren und Interesse zu schaffen. Es braucht aber auch das richtige Mindset dazu: Bei Citizen Science darf es nicht darum gehen, kostenlose Arbeit abzugreifen. Man muss sich auch Gedanken machen, was man den Freiwilligen zurückgibt und welchen Mehrwert man für sie schaffen kann.
Dieser Beitrag ist Teil unserer Blogreihe „Bibliotheken & Archive"