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Preisträgerin Melike Şahinol: „Die Perspektiven der Kinder herauszuarbeiten war nur durch partizipative Verfahren möglich“

Foto: Jakub Zerdzicki / Pexels

Soziologin Dr. Melike Şahinol wurde für das Werk „3D printed children’s prostheses as enabling technology? The experience of children with upper limb body differences” mit dem dritten Platz des Wissen der Vielen-Preises ausgezeichnet. Die prämierte Forschungsarbeit zeigt beispielhaft, wie partizipative Ansätze mit vulnerablen Zielgruppen erfolgreich in der Technikentwicklung eingesetzt werden können.

Wie würdest du deinen Beruf auf einer Party erklären? 

Melike: Ich verantworte am Orient-Institut Istanbul den Forschungsbereich „Science, Technology and Society“ und schaue mir an, wie Technik das Leben verändert und wie Menschen Technik selbst anpassen. Auf der individuellen Ebene geht es um körpernahe Technologien und Mensch-Maschine-Anpassungen, wie zum Beispiel 3D-gedruckte Prothesen oder Neuroimplantate. Auf der gesellschaftlichen Ebene geht es um Herstellungspraktiken, Standardisierung und Organisation in medizintechnischen Clustern. Wichtig ist, dass Technik immer eine normative Ebene hat. Ich werde häufig gefragt, ob bestimmte Technologien „gut“ oder „schlecht“ sind. Als Soziologin frage ich aber eher: Wer tut was für wen, warum, unter welchen Bedingungen und mit welchen Folgen.

Was gefällt dir an deiner Arbeit?

Melike: Als Soziologin stellt man sich oft die Sinnfrage. Ich beobachte Prozesse, versuche sie zu verstehen und sichtbar zu machen. Dieses Wissen kann dazu beitragen, den Alltag von Menschen zu verbessern oder bei partizipativer Innovationspolitik zu unterstützen. Eine multiperspektivische Sichtweise auf gesellschaftliche Probleme kann Klarheit in Prozesse bringen, die gesellschaftlich häufig normativ verhandelt werden. Außerdem gefällt mir, dass meine Forschung nicht nur theoretisch bleibt. Ich arbeite gern praktisch. Zum Beispiel habe ich auch 3D-gedruckte Prothesen modelliert, ausgedruckt und zusammengebaut. Es ist ein Irrglaube, dass diese im Ganzen aus dem Drucker kommen! In Wirklichkeit steckt unglaublich viel Handarbeit, Anpassung und verkörpertes Wissen darin. Genau diese Verbindung aus Wissenschaft, Handwerk und gesellschaftlichem Nutzen macht meine Arbeit für mich so erfüllend.

Worum ging es in deiner prämierten Publikation?

Melike: Ich habe untersucht, wie 3D-gedruckte Hand- und Armprothesen für Kinder entwickelt und im Alltag genutzt werden. Hierfür habe ich mit Kindern, den Eltern und der NGO Robotel Türkiye zusammengearbeitet. Das ist die türkische Zweigstelle vom Netzwerk e-NABLE, die ehrenamtlich 3D-gedruckte Prothesen für Kinder herstellt. Ich habe eine mehrjährige Feldforschung mit qualitativen, ethnografischen und partizipativen Methoden durchgeführt und als Herzstück das soziotechnische Erkundungskit entwickelt. Es machte möglich, dass die Kinder zu Co-Forschenden wurden. Schließlich kannst du ein Kind nicht einfach nur fragen, wie es ihm mit der Prothese geht. Dafür braucht es Vertrauen, kreative Zugänge und spielerische Formen der Wissensproduktion. Wie nutzen Kinder die Technik der Prothesen? Wann und wie funktionieren sie als ermöglichende Technologien? Was bedeutet das eigentlich? Herausgefunden habe ich unter anderem, dass Prothesen nicht nur ermächtigend sein können, sondern durch die Nutzung auch Einschränkungen entstehen. Kinder nutzen ihre bunte e-Nable-Prothese bewusst, um im Alltag mutiger zu sein, wie z.B. wenn sie damit Schnecken oder Hunde anfassen oder am Crosstrainer beide Griffe halten. Sie legen die Prothese aber beim Toben draußen wieder ab, weil sie scheuert, drückt oder leicht kaputtgehen kann. Dieselbe Prothese wird also zugleich als ermöglichend und als einschränkend erlebt.

Wie war die Forschung mit dem Erkundungskit gestaltet?

Melike: Das Erkundungskit ermöglichte es, die körperlichen, emotionalen und sozialen Erfahrungen mit der Prothesennutzung zu erforschen. Die Kinder erhielten einen Beutel mit einer geschlechtsneutral gestalteten Figur mit Prothese darauf. Darin war eine Mappe mit Aufgabenkarten für 9 Tage und einer Anleitung. Außerdem gab es Buntstifte, Sticker mit Emoticons, Kleber und Bastelmaterialien. Entstanden ist das Kit in Zusammenarbeit mit Kolleg*innen aus dem Bereich Design – von der Typographie der Buchstaben bis hin zur Farbwahl war alles durchdacht. Die Aufgaben waren einfach gehalten, aber öffneten wichtige Gespräche: Am ersten Tag sollten die Kinder ein Foto ihrer eigenen Prothese einkleben. Die Designs reichen von Superheldenmotiven bis hin zu Fußballmaskottchen. Eine andere Aufgabe war das Malen: Ein Kind zeichnete etwa seine gesamte Familie mit Prothesen und erklärte, dass es sich eine „Roboterfamilie“ wünsche. Solche Momente zeigen sehr deutlich, welche Vorstellungen und Bedeutungen Kinder mit ihrer Prothese verbinden - als technisches Hilfsmittel, als Symbol, als Spielobjekt oder als Teil ihrer Identität.

Die Kit-Ergebnisse lieferten mir dichte Einblicke in den Alltag der Kinder und halfen, ihre Erfahrungen jenseits direkter Interviewfragen sichtbar zu machen.

Wie hast du vom Wissen der Vielen profitiert?

Melike: Ich habe vom Wissen der Kinder, der Eltern und der NGO profitiert. Die Kinder haben das Nutzungswissen bereitgestellt. Wann nutzen sie die Technologie und wann lieber nicht? Ich habe gelernt, dass die Prothese für ein bestimmtes Computerspiel sehr praktisch sein kann und ein Kind beim Ballspielen lieber auf das Tragen der Prothese verzichtet, aus Angst, sie könnte kaputtgehen. Die Kinder haben alle eigene Praktiken entwickelt, um mit ihren körperlichen Differenzen umzugehen. Die Eltern brachten das Wissen als Beobachtende über den Alltag der Kinder ein, etwa wie lange die Prothesen getragen werde oder wie viel Pflege sie benötigen. Die Maker*innen der NGO haben das Konstruktions- und Materialwissen und können einschätzen, welche Modelle umsetzbar sind und wo technische Grenzen liegen. Zusätzlich waren für mich die fachlichen Perspektiven von Kinderärzt*innen und Psycholog*innen wichtig.

Was gab es für Reaktionen auf deine Arbeit?

Melike: Besonders in Erinnerung ist mir ein Gespräch mit einem teilnehmenden Ingenieur geblieben. Er war gespannt, was die Kinder mir erzählt hatten. Als ich berichtete, dass sie die Prothese nicht 24/7 nutzen, sondern zu spezifischen Anlässen, war er total geschockt. Er war der Überzeugung, dass er die Prothese entwickelt hätte, damit sie dauerhaft und ständig eine Hilfe sein würde. Aber ich konnte ihm dann erklären, wie genau die Kinder die Prothesen nutzen und warum das wichtig ist; zum Beispiel als Werkzeug für bestimmte Situationen oder als Symbol der Selbstwirksamkeit. Es gab die Geschichte eines Kindes, das am ersten Schultag seine Prothese mitbrachte und alle anderen ganz begeistert waren und auch so etwas haben wollten. Dem Ingenieur konnte ich versichern, dass seine Arbeit sinnvoll ist und so hat er es dann auch sehen können. 

Mit welchen Herausforderungen warst du auf dem Weg von der Datenerhebung bis zur Veröffentlichung deiner Studie konfrontiert?

Melike: Am Anfang war es wichtig, sich der Welt der Kinder – mit oder ohne Behinderung – anzunähern. Das hieß zuhören, beobachten und mitspielen. Bevor man Daten im Interview erheben kann, muss Vertrauen aufgebaut werden und das entsteht langsam. Ich habe 2017 angefangen und diese Publikation ist 2022 entstanden. Wissenschaftler*innen stehen immer unter Zeit- und Publikationsdruck. Aber ich hatte für diese Forschung den Luxus, mir mehr Zeit nehmen zu können. Das ist notwendig im Bereich der Partizipation, weil zunächst eine gemeinsame Sprache entwickelt werden muss. Dann war die Konzeption des Erkundungskits für die Kinder eine Herausforderung. Ich habe deren Aussehen und Inhalt bis ins kleinste Detail mit Expert*innen ausgeklügelt. Zudem sind bei der Arbeit mit Kindern als sensible Zielgruppe auch Fragen von Ethik und Schutz relevant. Das heißt, die Kinder ernst zu nehmen, aber auch der Pseudonymisierung usw. einen hohen Stellenwert zuzuschreiben. Hinzu kam die Herausforderung der Mehrsprachigkeit. Ich bin zwar bilingual Muttersprachlerin, aber die eingebundenen Akteur*innen haben unterschiedliche Alltagssprachen und auch die Übersetzung ins Englische für das Paper war aufgrund von kulturellen Implikationen nicht einfach. Es waren also viele Herausforderungen und doch ist es gelungen!

Was waren deine Highlights des Projekts?

Melike: Mein größtes Highlight war es, dass die Kinder zu Wort kamen. Dabei hat das Erkundungskit eine Schlüsselrolle gespielt, denn die spielerischen Aufgabenkarten, insbesondere das Emoticon-Feld, waren richtige Icebreaker. Ein teilnehmendes Kind war immer sehr ruhig und ich hatte mir schon Sorgen gemacht. Dann habe ich auf das aufgeklebte Emoticon gedeutet, welches das Kind selbst für die erste Aufgabenkarte gewählt hatte und gefragt, was an dem Tag los gewesen sei. So habe ich meine Interviews immer angefangen. Und dann fing dieses Mädchen an zu erzählen und hat gar nicht mehr aufgehört und ich war so glücklich. Überhaupt waren meine Highlights die Gespräche, die mir gezeigt haben, was die Kinder wirklich wollen, wie ihre Welt aussieht, wann die Prothese tatsächlich hilft und wie genau. Die Perspektiven der Kinder herauszuarbeiten, war nur durch partizipative Verfahren möglich. Toll war es auch, zu erleben, wie das Selbstvertrauen der Kinder sich durch die Prothesen ändert. Nicht, weil Technik alles lösen würde. Wir brauchen technische Lösungen, die sozial eingebettet sind – also sozio-technische Lösungen. In der gemeinsamen Forschung konnten die Kinder Selbstvertrauen entwickeln, weil sie gemerkt haben, dass ihre Erfahrungen mit den Prothesen zählen.

Zum Schluss noch ein Blick in die Zukunft. Hast du schon Ideen für die Verwendung der Preisgelder?

Melike: Ja, auf jeden Fall! Das Preisgeld soll auch den Kindern zugutekommen. Aufbauend auf meine bisherige Forschung würde ich gerne ein Design-Lab für die Kids machen, in dem sie ihre Prothesen selbst produzieren. Es wäre interessant, wenn sie das technische Wissen erlangen, wie sie ausgedruckt und geformt werden. Wenn man Technik besser versteht, dann verändert sich auch der eigene Zugang zu ihr. Das Preisgeld ermöglicht es mir, Material, 3D-Druck-Technik und die Umsetzung des Design-Labs bereitzustellen und bei Bedarf auch Reisekosten zu unterstützen. Natürlich würde ich alles forschend begleiten. Mit der NGO habe ich schon gesprochen – sie freuen sich wahnsinnig!

Leonie Malchow

Leonie ist über die Welt der Engagement- und Demokratieförderung bei der Citizen Science gelandet. Im Team ist sie für Projektmanagement und Kommunikation zuständig.