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Die Plattform für Citizen-Science-Projekte aus Deutschland: Mitforschen, präsentieren, informieren!

Fragen für die Zukunft der Citizen Science: Ist der Zenit schon erreicht?

Joysten Judah / Pexels

von Claudia Göbel

Wo steht die Citizen-Science-Community heute? Einen lebhaften Einblick vermittelte die gemeinsame Citizen-Science-Konferenz von ECSA und Österreich forscht Anfang April 2024 in Wien. In ihrer Eröffnungsrede skizzierten Florian Heigl und Daniel Dörler, das Koordinatoren-Team der österreichischen Plattform, ihre Reise über die letzten 10 Jahre: Heute sind mehr als 100 Citizen-Science-Projekte auf der Plattform (am Anfang waren es neun), Konferenzen für Praktiker*innen finden regelmäßig statt, fast 50% der österreichischen Bevölkerung habe schon einmal von Citizen Science gehört und dass Nicht-Professionelle zu Forschung beitragen, werde heute auch in der Wissenschaft mehr akzeptiert. Diese Entwicklungen lassen sich auch in Deutschland und Europa insgesamt beobachten, wenn auch zu unterschiedlichen Graden.

Nicht nur die Zahl an Citizen-Science-Projekten ist in den letzten Jahren kontinuierlich angewachsen. Einige unter ihnen erlangen außerdem große mediale und forschungspolitische Sichtbarkeit, wie zum Beispiel die Plastikpiraten, welche junge Menschen und Schulklassen in das Umweltmonitoring zu Gewässern und Plastikmüll einbinden. Das trägt zur Bekanntmachung von Citizen Science als Ansatz für Partizipation in der Forschung mit Bezug zu Nachhaltigkeitsthemen bei. Andere Projekte können ihre Arbeit mit Bürger*innen als Standard-Methode in ihrem Anwendungsfeld verstetigen, wie zum Beispiel der Mückenatlas. Darüber hinaus haben sich auch die Citizen-Science-Plattformen, welche Projekte sichtbar machen und übergreifende Aufgaben wie Vernetzung und Weiterbildung übernehmen, in den letzten Jahren vervielfältigt. Neben solchen mit Fokus auf Online-Aktivitäten, wie Zooniverse oder JOGL, oder einzelnen Forschungsbereichen, wie patientslikeme, finden sich nationale Plattformen in vielen EU-Ländern. 

Citizen-Science-Netzwerke sind die Katalysatoren der Ausbreitung des Ansatzes. Neben der Citizen Science Association (kürzlich umbenannt in Association for Advancing Participatory Sciences) in den USA waren es in Europa zunächst Österreich, Deutschland und die Schweiz, welche nationale Citizen-Science-Netzwerke formal als Vereine gründeten oder Plattformen aufbauten. Schweiz forscht hat ein tolles Miro-Board zur 10-jährigen Geschichte von Citizen Science in der Schweiz gemacht, welches diverse Konferenzen, Institutionen und Publikationen listet. Obwohl (oder gerade weil?) im Vereinigten Königreich früh viele Citizen-Science-Aktivitäten etabliert waren (unter anderem das OPAL-Projekt, Aktivitäten des Londoner Naturkundemuseums, die British Ecological Society, die Arbeit an der UCL London), hat sich dort kein übergreifendes nationales Netzwerk gebildet. Später folgten viele andere Länder – Spanien, BelgienDänemarkSchwedenItalien – und erst im letzten Jahr auch Portugal. Auch international hat sich einiges getan. In der eröffnenden Podiumsdiskussion sprach Maina Muniafu über die kommenden Vorhaben von citsciafrica, welcher er vorsteht. Außerdem ist er Vice Chair der Citizen Science Global Partnership (CS:GP), einer internationalen Initiative, die sich für grenzüberschreitende Projekte einsetzt. Am Abend durfte ich zu einem Treffen dazustoßen, auf dem Mitglieder des lateinamerikanischen RICAP-Netzwerks über ihre weitere Entwicklung diskutierten. Auch die European Citizen Science Association hat mit ihren verschiedenen europäischen Projekten in den letzten Jahren vielfältige Gelegenheiten für Austausch, die Erarbeitung eines gemeinsamen Wissenskorpus und Infrastrukturentwicklung gesorgt, wie zum Beispiel dem ESC-Projekt.

In der Wissenschaftspolitik und Forschungsförderung wurde Citizen Science an diversen Stellen prominent verankert. Die Vertreterin des österreichischen Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung verwies stolz darauf, dass es dort mit dem Sparkling-Science-Programm bereits seit 2007 Geld für Citizen Science gibt. Wiebke Brink hat in ihrem Blogbeitrag die Situation in Deutschland beschrieben. Die von Alan Irwin geleitete Mutual Learning Exercise gibt einen guten Überblick über weitere Länder. Von der EU wurde Citizen Science seit dem Rahmenprogramm Horizon2020 gefördert und als eine Säule der Open-Science-Politik beschrieben. Auch die UNESCO Recommendation on Open Science hebt die Bedeutung von partizipativer Forschung und Citizen Science für die Zukunft der Wissenschaft hervor. Aber nicht nur in der Politik tut sich etwas, Citizen Science wird auch an immer mehr wissenschaftlichen Einrichtungen etabliert – das sieht man unter anderem auf dem schweizerischen Miro-Board, aber auch in der ECSA-Arbeitsgruppe zu Citizen Science an Universitäten. Kristin Oswald hat aufgrund der steigenden Nachfrage unlängst einen Blogpost zum Thema geschrieben.

Citizen Science hat also die erste Formierungsphase als neuer Ansatz für partizipative Forschung hinter sich gelassen und wäre, gemessen an der steigenden Aktivität und Bekanntheit, aktuell irgendwo zwischen Hoch- und Auslaufphase zu verorten. 

Ist der Zenit schon erreicht? Welche Fragen stellen sich aktuell? 

Man könnte meinen, Citizen Science sei in einer recht komfortablen Situation der brummenden Aktivität, eingespielten eigenen Strukturen und steigender Unterstützung angekommen. Die wohlverdiente Jubiläumsfreude auf der Konferenz wurde aber auch begleitet durch das Aufwerfen einiger wichtiger Zukunfts-Themen.

Da wäre zum einen die Aufrechterhaltung von Qualität und der Ausbau von Methodenentwicklung, die einen Balanceakt erfordert zwischen Wissenschaftlichkeit, guter Partizipation und Mehrwehrt für alle Beteiligten. Mit-Gastgeberin Katrin Vohland argumentierte in ihrer Abschlussreflektion, dass die Co-Benefits von Citizen Science für außerwissenschaftliche Felder, zum Beispiel Bildung und Politik, zwar hoch und wichtig seien. Man müsse sich aber vor der Instrumentalisierung des Forschungsansatzes für andere Zwecke in Acht nehmen. Außerdem werde Citizen Science oft als Werkzeug gepriesen, um das Vertrauen in die Wissenschaft zu steigern – dabei sei doch gerade das Zweifeln das, was Wissenschaft ausmache. Statt pauschales Vertrauen in Wissenschaft zu fordern und zu fördern, sei die Stärke von Citizen Science vielmehr darin zu sehen, sich mithilfe wissenschaftlicher Methoden besser selbst zu vertrauen, selbst kritisch zu hinterfragen und zu reflektieren. Sie appellierte daran, die hohen Werte von Citizen Science (siehe die Zehn Prinzipien von Citizen Science der ECSA) aufrechtzuerhalten und für aktuelle Fragen, wie technische Weiterentwicklungen, auszubauen. Auch Shannon Dosemagen unterstrich in ihrer Keynote die Bedeutung von Citizen Science für große globale Herausforderungen wie Klimawandel oder Biodiversitätskrise und betonte die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Anpassung und Erweiterung des Ansatzes.

Zum anderen wird angesichts des Wachstums des Feldes auch der Umgang mit internen und externen Spannungen drängender. Katja Mayer hob in ihrer Keynote am Beispiel der Sozialwissenschaften auf die oft nicht einfachen Beziehungen von Citizen Science zu anderen Formen von Partizipation ab. Sie legte dar, wie partizipative Methoden in den Sozialwissenschaften seit gut 100 Jahren um Anerkennung kämpfen und noch immer ein recht marginales Dasein fristen. Die Popularität von Citizen Science als neuer Ansatz kommt da nicht nur als Bestärkung, sondern in Teilen auch als Bedrohung daher – Veränderungen könnten auch dafür genutzt werden, die hart erkämpfte Strukturen wieder abzuschaffen. Sie rief daher Citizen-Science-Vertreter*innen auf, diese Bedenken zu respektieren und achtsam mit ihnen umzugehen. Gleichzeitig hob sie die vielfältigen Potenziale für eine Bereicherung von existierenden sozialwissenschaftlichen Methoden durch Citizen-Science-Ansätze – und umgekehrt – hervor. 

Auch innerhalb verschiedener Citizen-Science-Gruppen können wir verstärkt Diskussionen beobachten, die den Kern der gemeinsamen Sache hinterfragen und teils neubewerten. So hat sich das amerikanische Netzwerk von „Citizen Science“ in seinem Namen verabschiedet, um andere politische Akzente zu setzen. Und auch für die deutsche Plattform scheint der Bürger-Begriff nicht mehr zeitgemäß zu sein. Man kann solche Entwicklungen als erste Auflösungsphänomene betrachten. Oder als Aktivierung und Stärkung einer Gemeinschaft von Praktiker*innen, die sich aktiv selbst reflektiert und die sich mit einer Verbreiterung ihrer Trägerschaft auch konzeptuell erneuert. Wahrscheinlich ist es eine Mischung aus beidem. Ähnlich ambivalent scheint die Weiterentwicklung der Fördersituation sowohl in Ländern wie Deutschland, als auch in Europa insgesamt. Die Frage – kann sich Citizen Science als Ansatz in der Forschungsförderung halten (und in welcher Form) oder wird es sich im Gemisch mit anderen Keywords eher schnell wieder auflösen? – war nicht nur in Pausengesprächen, sondern auch auf so manchem Podium präsent.

Bis auf wenige Ausnahmen schien allerdings zu solchen großen Fragen auf der Konferenz eine eigenartige Sprachlosigkeit zu herrschen. Oder ich habe die diesbezüglichen Diskussionen einfach nur verpasst. Aber vielleicht ist auch das symptomatisch. Mit vielen neuen Projekten und Vernetzungsinitiativen stellt sich auch die Frage eines Generationenwandels. Wer heute neu dazustößt, kennt die anderen noch nicht persönlich und im Gegensatz zur Anfangszeit ist das in der Gänze der Community auch gar nicht mehr möglich. Wie schafft man da eine offene Atmosphäre und gibt neuen Ideen eigenen Raum? Wie kann man trotzdem aus Wissen und Erfahrung schöpfen, sodass nicht die gleichen Diskussionen immer wieder geführt werden? Ein interessantes Vorgehen begegnete mir in der schweizer Initiative, auf Basis der zehn Prinzipien von Citizen Science der ECSA einen Katalog der Schweizer Citizen-Science-Prinzipien zu erarbeiten. Was auf den ersten Blick recht schweizerisch daherkam, wirkte auf den zweiten spannend – allgemeine Konzepte nehmen, aber mit den aktiven Menschen vor Ort diskutieren, was davon (noch) in den jeweiligen Kontext passt, was nicht, und was verändert werden kann. Welche Möglichkeiten der Zusammenarbeit gibt es, die die partizipativen Grundsätze und die Dynamik des sich gemeinschaftlichen Organisierens auch mit mehr Teilnehmenden ermöglichen, ohne nur noch top-down zu sein? Vielleicht kann man hier von anderen Praxisgemeinschaften und sozialen Bewegungen lernen, die solche Wege der Institutionalisierung schon beschritten haben. Welche Themen sind wichtig, um eine Gemeinschaft zu integrieren und Citizen Science weiterzuentwickeln, wenn diese Gemeinschaft immer heterogener wird? Reicht ein Minimal-Konsens-Motto wie „Veränderung“ dafür schon beziehungsweise in Zukunft noch aus? Und gibt es noch neue Sterne, nach denen man greifen kann? Wäre es vielleicht möglich, eine stärkere Einbindung beziehungsweise Vernetzung der Teilnehmenden an Citizen-Science-Projekten (Citizen Scientists nennen sich ja die wenigsten) untereinander zu fördern und zu gucken, was dabei rumkommt? Claire Murray hat das mit Jugendlichen erprobt, die in verschiedenen sozialwissenschaftlichen Projekten mitgeforscht haben. Ihre Arbeit vermittelt einen Eindruck davon, dass in dieser Richtung ein riesiges und bedeutungsvolles Potenzial schlummert.

Die Ausgangssituation, um sich diesen und anderen Fragen für die Zukunft von Citizen Science zu widmen, erscheint nicht ungünstig: Trägerorganisationen wie mit:forschen! oder ECSA haben viele engagierte Mitarbeitende, die sich für die Community einsetzen und mit neuen Formaten experimentieren. EU-Projekte zur Förderung und Institutionalisierung von Citizen Science stellen Geld für Aktivitäten bereit. Die Citizen-Science-Kompetenzzentren vermehren sich und Netzwerke auf verschiedenen Ebenen könnten sich gegenseitig mit Themen und Werkzeugen inspirieren. Wenn es gelingt, den Herausforderungen einer wachsenden und sich diversifizierenden Community weiter kreativ zu begegnen und ihre Lebendigkeit zu stimulieren, dann wird man nicht nur der Politik etwas dazu sagen haben, warum es sich lohnt, Citizen Science eben als Citizen Science weiter zu fördern. Man wird auch untereinander und mit anderen partizipativ Aktiven weiterdiskutieren, selbst wenn die öffentliche Aufmerksamkeit irgendwann abflaut. 

 

Über die Gastautorin: 

Claudia Göbel forscht zu Citizen Science als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Mainz und engagiert sich für offene partizipative Forschung, unter anderem in der deutschen Citizen-Science-Landschaft, der ECSA, dem Living Knowledge Network und der CS:GP.


Dieser Beitrag ist Teil unserer Jubiläums-Blogreihe „Fragen für die Zukunft der Citizen Science". Hier geht es zur Übersicht der Blogreihe.

Gastautor*in(nen)

Auf dem Blog von mit:forschen! laden wir Gastautor*innen ein über ihre Perspektive auf Citizen Science und jeweilige Themenschwerpunkte zu berichten. Gastbeiträge spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.